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Die Sexualität gehört zum Menschsein

Sexualität mit Sinn erfüllen

Dr. Peter Kobosil

Zum Menschsein gehören einige Besonderheiten, die unser Leben bereichern können, wenn wir über die vordergründige Betrachtung hinaus ihre ganze Bedeutung erfasst haben. Die Sexualität gehört dazu.

Sexualität und Liebe

Wenn wir wirklich den ganzen Menschen begreifen möchten, dann dürfen wir nichts von ihm allein auf seine Körperlichkeit beziehen. Sie ist nur ein Teil eines wunderbaren Zusammenspiels mehrerer, verschiedendimensionaler Bereiche. Sie ist aber ein perfekter Teil für sich, ein perfektes Instrumentarium, dessen sich unsere geistig-seelische Persönlichkeit, unser Inneres, bedienen kann, um sichtbar und auch für den anderen erlebbar zu werden. Jedes äußere Verhalten, jede Gestik, jede Mimik und jedes Wort sind mit inneren Zuständen verbunden und haben ihre Bedeutung. Auf diese Weise teilen wir unsere Gedanken und Gefühle mit, unsere Bedürfnisse, Wünsche, Erwartungen oder Forderungen. So können wir einander begegnen, lernen einander kennen und reifen aneinander. Und eine der sensibelsten und komplexesten Möglichkeiten, einander zu begegnen, einander die tiefen und intimen Seelengründe mitteilen zu können, ist unsere Sexualität.

In jedem Lebensalter äußert sich in der Sexualität die Gesamtpersönlichkeit: Unwiderstehliche Ausstrahlung und Anziehung, Zärtlichkeit, Hingabe, Vertrauen und Geborgenheit. Nicht von ungefähr wird sie mit der "größten" Eigenschaft des Menschen, mit der Liebe, in Verbindung gebracht und fälschlicherweise oft sogar selbst als Liebe bezeichnet. Liebe und Sexualität sind nicht ein und dasselbe - aber, Liebe auszutauschen, das ist ganz sicher auch eine Aufgabe der Sexualität, um dadurch neues Leben hervorzubringen - neues körperliches Leben und neue Lebenskraft aus der seelisch-geistigen Verschmelzung und Befruchtung.

Sexualität als Spiegel des Charakters

Die Sexualität kann auch eine andere Sprache sprechen als die der Liebe. Das sexuelle Verlangen kann durch vielerlei emotionale Bewegungen stimuliert werden, die nicht viel oder gar nichts mit wirklicher Liebe zu tun haben. Groß ist hier das Spektrum der Möglichkeiten: Angefangen von dem bloßen Bedürfnis nach Beseitigung seelischer und körperlicher Spannungen, von dem Drang zu erobern oder zu besitzen, bis hin zur bloßen Lustbefriedigung, nicht selten verbunden mit Demütigung und Verletzen- oder sogar Zerstören-Wollen. Wird die Sexualität dadurch zu etwas Schlechtem? In der Regel wird das noch so gesehen. Aber genauso müssten wir dann auch unser Gehirn als etwas Schlechtes bezeichnen, wenn wir verwerfliche Gedanken haben, oder unsere Sprechwerkzeuge, wenn sie solche Gedanken aussprechen. Wir haben es hier mit zwei verschiedenen Dingen zu tun, die beim Menschen zwar zusammengehören, die aber nicht ein und dasselbe sind, so wie auch Sexualität nicht mit Liebe oder Grausamkeit gleichgesetzt werden kann: Das eine sind Eigenschaften, die zu unserem Charakter gehören und die von uns als "gut" oder "schlecht" beurteilt werden. Und das andere sind moralisch wertfreie, aber wertvolle körperliche und seelische Ausdrucksmöglichkeiten, so wie eben auch die Sexualität, durch die sich unsere Wesensart den anderen mitteilt und durch die wir uns auch selbst wie in einem Spiegel beobachten und kennenlernen können. Gerade die Sexualität holt aus uns oft innerste, uns noch gar nicht so bewusst gewordene Wesenszüge hervor und nimmt uns mit bis hinauf in unsere höchsten Höhen oder hinunter in die tiefsten Tiefen.

Die Sexualität hat eine eigene Dynamik

Die Sexualität ist nicht nur ein passives Instrument, das nur darauf wartet, von uns gebraucht zu werden, sondern sie entwickelt aus der natürlichen Anlage heraus auch eine eigene Aktivität, einen Drang und ein Verlangen, und das bringt vieles in unserer Seele in Bewegung, das sonst vor uns selbst und vor den anderen verborgen bliebe. Das sexuelle Drängen hilft uns vor allem, zwischenmenschliche Hemmungen und Schranken zu überwinden und auf den Partner zuzugehen. Es weckt unser Einfühlungsvermögen und Verständnis, unsere Zartheit und Hingabefähigkeit und animiert uns, an diesen Qualitäten weiterzuarbeiten, um das Miteinander zu verschönern.

Gleichzeitig kann aber auch noch etwas anderes in uns erwachen, das gar nicht so angenehm empfunden wird: Scham oder sogar Angst vor unseren eigenen Vorstellungen und Wünschen oder vor der vielleicht zurückweisenden Haltung des Partners, Zwiespalt zwischen Sehnsucht und moralischen Grenzen, Eifersucht gegenüber Dritten oder Enttäuschung, weil unsere Erwartung nicht erfüllt wird oder weil wir einsehen müssen, dass wir die Erwartungen des anderen auch nicht erfüllen können.

Die sexuelle Dynamik macht das eigene Unbewusste lebendig und sie hilft uns auch, die partnerschaftliche Beziehung viel schneller auf ihre wahre Tiefe und Vertrauensbasis hin kennenzulernen. Sie ist auch die treibende Kraft, um in der heutigen freieren und offeneren Zeit in natürlichere und ehrlichere wertvolle neue Perspektiven des intimen Miteinanders hinein zu reifen. Und wie in allen verantwortungsvollen Bereichen des Lebens steht besonders auch hier immer wieder die Frage im Raum: Wie mache ich es richtig?

Frage zuerst immer Dein Herz

So wie weibliche und männliche Sexualität ganz spezifische Prägungen in sich tragen und einander perfekt ergänzen können, so hat jeder einzelne Mensch seine ganz persönliche Sexualität, die im Einklang steht mit seinem Wesen, seiner Erziehung und seinem Schicksal und die sich mit seiner Entwicklung weiterformt und entfaltet, die aber gleichzeitig aus ihrer ureigenen innersten Kraft heraus auch mithilft, die persönlichen Lebensstrukturen schöpferisch zu gestalten.

Der Freiraum für die sexuelle Reifung ist in der heutigen Zeit größer geworden. Im Großen und Ganzen wurde erkannt, dass durch Verdrängen, Unterdrücken, Verbote und Strafen aus überzogenen oder falschen Moralvorstellungen heraus unsere Probleme nicht nur nicht gelöst werden können, sondern eher größer werden und dass sexuelle Ausschweifungen, Abartigkeiten und Missbrauch nicht zuletzt gerade deshalb auftreten, weil die natürliche Sexualität nicht ausreichend gelebt werden kann, oder weil man damit nicht umzugehen vermag. Erst die Befreiung aus allzu engen allgemeinen moralischen, religiösen und gesellschaftlichen Grenzen ermöglicht die Formung eines eigenen, ganz persönlichen Weges, für den wir selbst die Verantwortung tragen. Ganz sicher ist er dann der beste Weg für uns, wenn er aus dem Herzen kommt, wenn den Wünschen und Sehnsüchten nach sexueller Begegnung Liebe zugrunde liegt - Selbstliebe und Nächstenliebe. Die Richtung unseres Weges liegt in uns selbst. Und die Sehnsucht unseres Herzens hat immer etwas mit unserem eigenen Weg zu tun, auch wenn sich dieser Weg manchmal als schwierig erweist und unsere Umwelt mit Unverständnis auf uns blickt, so als würden wir etwas Falsches oder Verwerfliches tun.

Wer dies so sehen kann, der wird die verschiedenen Formen an Lern- und Reifungsprozessen auch im sexuellen Geschehen bei sich selbst und bei anderen zulassen können: Er wird die aufwallenden Bewegungen in der Jugendzeit nicht dramatisieren, er wird Entgleisungen und Untreue des Partners, die sich oft als heilsame Umwege erweisen, nicht mit bleibender Unversöhnlichkeit quittieren und er wird die gleichgeschlechtliche Sexualität wenigstens als Kompromiss auf dem Weg zu einer schöpfungsgerechten zweigeschlechtlichen Form der intimen Partnerschaft tolerieren können.

Sexualität und Gewalt

Die Gestaltung der sexuellen Beziehung zu beurteilen, wie auch immer sie zwischen Menschen vereinbart ist, das obliegt nicht der Einschätzung eines Außenstehenden. Sobald aber Gewalt im Spiel ist gegen Schwächere und Hilflose, ist Akzeptieren und Toleranz nicht mehr angebracht. Sexuelle Gewalt oder sexueller Missbrauch von Kindern darf für uns nicht tolerierbar sein, weil hier verletzt und zerstört wird - körperlich und seelisch. In diesem Fall trägt jeder Mitwisser zumindest eine Mitverantwortung, die ihm je nach Situation direktes oder indirektes Zu-Hilfe-Kommen auferlegt.

Der Weg zu einer Lösung solcher Probleme liegt hier nicht nur in der Berücksichtigung sexueller Schwierigkeiten und schon gar nicht in der Abwertung und Verurteilung der Sexualität. Vielmehr ist hier die Gesamtpersönlichkeit des Täters stark gestört. Sie ist zu einem dauerhaften partnerschaftlichen Miteinander nicht fähig und bedient sich deshalb der gewalttätigen Sexualität, um durch Unterwerfung des Schwächeren den Drang nach Beziehung stillen zu können. Verständnisvolle Hilfe für Opfer und Täter wäre hier sicher der beste Ansatz für eine wirkliche Lösung.

Sexualität im Alter

Mit jedem Älterwerden verändert sich die Sexualität. Immer wieder werden aufgrund der sich ändernden Vorstellungen vom Schönen, Angenehmen und Attraktiven die Schwerpunkte neu gesetzt. Im Alter werden Einfühlungsvermögen, Zärtlichkeit und innere Zuneigung wichtiger als körperliche Vereinigung. Wertschätzung des Charakters, Gesamtpersönlichkeit und ganzheitliches Auftreten nehmen an Bedeutung zu und es wachsen die Bedürfnisse nach Wechselseitigkeit und gegenseitigem Vertrauen. Grundsätzlich aber unterliegen die sexuellen Interessen eines alten Menschen keinem spezifisch altersbedingten Rückgang. Sie können bis ins hohe Alter erhalten bleiben und zu einem weiterhin erfüllenden Sexualleben führen - es sei denn, dass Behinderungen auftreten oder es fehlt die positive Einstellung zur Sexualität oder das doch schwächer werdende sexuelle Bedürfnis wird durch übermäßiges Tabugehabe von außen erstickt. Oft "verbieten" die Jüngeren den Alten, was diese früher den Jüngeren verboten haben. Aber auch hier ist durch stete Aufklärungsarbeit eine Wandlung in Gang gekommen: Partnerschaft im Alter wird zunehmend nicht mehr als eine sexuell tabu seiende Beziehung betrachtet und körperliche Zuneigungsbeweise werden heute weit weniger als unschicklich abgetan und ins Lächerliche gezogen. Und jeder von uns, der sich auch im Älterwerden offen und ehrlich zu seinen sexuellen Bedürfnissen bekennt, trägt ganz allgemein zur Reduzierung ungerechtfertigter Schamgefühle und zu einer wünschenswerten, auch im Alter lebendig bleibenden partnerschaftlichen Entwicklung bei.

Verschmelzung der Seelen als Ziel

In einem ganzheitlichen Denken hat das Leben vor allem den Sinn der geistig-seelischen Reifung, wobei uns das körperliche und das materielle Leben insgesamt dazu verhelfen, das weitaus sensiblere Leben des Seelischen zu ergründen, so wie ein Mikroskop kleinstes Leben für uns verstärkt und vergrößert. Und gerade die sexuelle körperliche Dynamik weckt dieses seelische Leben in uns, bringt es in Bewegung, hält es aufrecht und verstärkt die Sehnsucht nach einem Miteinander, nach innigster Verschmelzung, die sich mit zunehmendem Alter vom Körperlichen ins Seelische verschiebt. Und wenn einst der Körper der Erde zurückgegeben sein wird, dann werden wir mit seiner Hilfe ein wenig mehr gelernt haben, mit unseren Gefühlen, Wünschen und Sehnsüchten, mit unseren intimsten seelischen Bedürfnissen umzu- gehen. Und für viele von uns ist es nicht anders vorstellbar, als dass auch über die irdische Existenz hinaus ein erfülltes Leben bestehen bleibt oder erst so richtig möglich ist, und dazu gehört ganz sicher auch die innigste Verschmelzung zweier Seelen in einer Liebe, die sich ergänzt und befruchtet und wieder neues geistiges Leben hervorbringt.

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